Jedes soziale System schafft sich seine Außenseiter; an dem abweichenden Verhalten wird das Wertgefüge der eigenen Normalität erkennbar und deutlich gemacht. Solche marginalisierende Zuschreibungen haben etwas ungemein Entlastendes, denn auf diese Weise müssen die dominanten Gruppen einer Gesellschaft sich keine Rechenschaft darüber geben, weshalb bestimmte Phänomene, wie beispielsweise neue religiöse Bewegungen, in der konkreten gesellschaftlichen Situation eine solche Bedeutung, wie man sie ihr zuschreibt, überhaupt erhalten können. Ihre Diskriminierung enthebt die Mehrheit von jeglicher Auseinandersetzung mit der von der Minorität ausgehenden, vielleicht unangenehmen, weil die eigene Position verunsichernden Anfrage.
(Einleitung, Toleranz und Repression, Campus Verlag, S. 11f)
Nach den vorliegenden seriösen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen geht es um wenige tausend Leute in der ganzen Bundesrepublik. Vergleicht man diese Zahl etwa mit der der jugendlichen Arbeitslosen, die ums Mehrhundertfache höher liegt, dann erhält man den Eindruck, bei unserer Sorge um die Jugend stimmen die Proportionen ganz einfach nicht mehr.
...
Daß es gerade die Kirchen sind, die heute in den neuen Sekten eine solche Gefahr sehen, hängt sicher weder ausschließlich noch primär mit der Angst vor konkurrierenden religiösen Sinnstiftungen zusammen. Man wird echte seelsorgerische Teilnahme am Schicksal der zu den Sekten überlaufenden jungen Leuten nicht leugnen können. Ganz vernachlässigen kann man den Konkurrenzfaktor allerdings auch nicht. Kirchliche Feindschaft gegen Sektenkonkurrenz hat jedenfalls eine lange Tradition. Was im übrigen den Hinweis auf die ,,Abstrusität'' der neuen Lehren, ihre ,,Irrationalität'' betrifft, so wird man wohl nicht übersehen können, daß allen religiös Gläubigen der jeweilige ,,Irrglaube'' der anderen recht abstrus vorkommt.
(Westermanns Monatshefte, Januar 1985)
Natürlich enthebt uns das nicht der Aufgabe, auch zu überprüfen, inwieweit die Sekten unseren Projektionen möglicherweise entsprechen.
(Kirche - Lebensraum für Jugendliche, Matthias Grünewald-Verlag, Mainz 1980, S. 133f)
Diese ,,religiöse'' Auseinandersetzung, die an die Stelle der Argumentation Vorwürfe verschiedenster Art setzt und meist plakativ verfährt, geht meiner Ansicht nach nicht nur an den eigentlichen Problemen, religiösen Defiziten in unseren Großkirchen, vorbei, sondern vermag auch letztlich keine wirkliche Argumentationshilfe an die Hand zu geben, da sie über Lehre und Selbstverständnisse der sogenannten Jugendreligionen und ihrer Anhänger nicht aufzuklären vermag, also auch nicht die Gründe und Beweggründe der Anhänger für ihren Eintritt deutlich machen kann. Es bleiben tatsächlich mehr Pauschalurteile, die bis zur Verunglimpfung reichen können, als sachliche Information und sachgemäße Auseinandersetzung. Gerade das aber birgt in sich auch die Gefahr, daß auf Grund dieser Unsachgemäßheit nicht nur immer mehr Verunglimpfung, sondern unter gewissen Umständen auch Verfolgungen erwachsen könnten.
...
Diese Befürchtung könnte sich umso mehr verstärken, je krisenhafter die gesellschaftlichen Situationen sich entwickeln könnten, zumal in Umbruchs- und Krisenzeiten, wie die Geschichte lehrt, Minderheiten welcher Art auch immer, nicht selten zur Abreaktion herhalten müssen. Dies sollte uns dazu veranlassen, die Auseinandersetzungen mit den religiösen Minderheiten auch in Gestalt der Jugendreligionen auf anderen Ebenen und in anderen Formen zu suchen.
(Gewissen und Freiheit, 19/1982, S. 54ff)
Aus unserer Sicht muß eine Information über die NRB (Neuen Religiösen Bewegungen) drei Kriterien erfüllen: Sie muß ausgewogen, sachlich und selbstkritisch sein. Ausgewogen heißt, nicht durch Anhäufung negativer und Auslassung positiver Aspekte das Bild zu verzerren, heißt, den Beobachtungen die Bedeutung zuzumessen, die ihnen innerhalb der Gruppe zukommt, und nicht jene, die in das Interpretationsschema des Beobachters passen. Es dürfen nicht einzelne Vorkommnisse als typisch hingestellt werden, bestimmten Lebensregeln nicht eine Bedeutung zugesprochen werden, die sie nicht haben, Perspektiven dürfen nicht verzerrt werden. Das, was dem Außenstehenden zuerst in die Augen springt, mag für die Gruppe gar nicht so wichtig sein; was auf Grund der kulturellen Andersartigkeit sofort registriert wird, wird auch meist falsch interpretiert. Es ist weiters sehr billig, religiöse Riten ins Lächerliche zu ziehen und symbolische Ausdrucksweisen verschiedener Texte der Gruppen in einer Weise zu interpretieren, die den Gruppenintentionen nicht entsprechen - auch religiöse Texte der Großkirchen können auf einen nicht Eingeweihten sehr befremdend wirken, sie haben nur ihre Schärfe in der gewohnten Unverbindlichkeit verloren. Eine sachliche Information erfordert überdies eine Beschreibung, bei der Beobachtung und Beurteilung in erkennbarer Weise voneinander getrennt werden. Auch das trifft auf die gängige Berichterstattung über die NRB nicht zu. Ebenso fehlt meist das selbstkritische Element, nämlich das Einbekenntnis der Relativität und Gebundenheit des eigenen Standorts. Bei der Berichterstattung über NRB werden diese Prinzipien permanent verletzt. Das ist deswegen möglich, weil die auf Sensationen ausgerichtete Verfälschung mit breiter Zustimmung rechnen kann. Geschädigt werden damit aber nicht nur die Mitglieder der Gruppen selbst, sondern auch ihre Angehörigen und ehemalige Mitglieder.
(Ursachen und Wirkungen gesellschaftlicher Verweigerung junger Menschen unter besonderer Berücksichtigung der Jugendreligionen, Wien 1981, S. 356)
Die Sektengefährdeten können als jene Personengruppe betrachtet werden, die eine ausreichende emotionale Basisversorgung in ihrer Herkunftsfamilie erlebt hat, die aber in ihrem bisherigen Leben ein starkes Auseinanderklaffen zwischen den eher hochgesteckten ideellen Zielen und Erwartungen an verschiedene Lebensbereiche und den tatsächlichen Lebenserfahrungen in diesem Bereich hinnehmen mußte. Es sind durchgängig hochidealistische Jugendliche, die sich für etwas einsetzen wollen, die aber weitestgehend noch nicht wissen, wofür sie sich denn einsetzen sollen und wofür es sich lohnt, sich in einem solchen Maße anzustrengen. Gleichzeitig suchen diese Jugendlichen in hohem Maße Gemeinschaft und das Gefühl des emotionalen Angenommenseins, wofür sowohl das hohe Familienideal einerseits, als auch andererseits das Motiv spricht, daß die sektengefährdeten Jugendlichen eben Personen suchen, mit denen sie ihre ,,Lebensfreude'' gerne teilen könnten.
(Jugendsekten - Prognose über das Gefährdungspotential bei Jugendlichen, aus Linzer Universitätsschriften, Beiträge zur Systemforschung, Springer Verlag 1985, S. 219ff)
Es drängt sich die Frage auf, warum die Untersuchungsergebnisse hinsichtlich ein und desselben Phänomens so stark variieren. Wenn es wahr ist - und dies steht außer Streit -, daß viele NRB international verbreitet sind, und wenn es wahr ist, daß weltweit dieselben in diesen Bewegungen liegenden Gefahren beobachtet werden können - wie aus Anti-Kult-Kreisen verlautet -, dann dürften sorgfältige Analysen dieser Phänomene kaum mehr als minimale Abweichungen zeigen. Die an die Regierung gerichteten Empfehlungen mögen in jedem Land andere sein, weil sie dem jeweiligen Rechtssystem entsprechen müssen, aber ihre theoretische Grundlage (die Natur, das Ausmaß und die Ernsthaftigkeit der angeblichen Gefahren und die Notwendigkeit staatlicher Intervention) müßten dasselbe Bild ergeben. Trotzdem stellt sich in der Praxis das Gegenteil heraus.
Meiner Meinung nach liegt die Erklärung hauptsächlich in der unterschiedlichen Einstellung der verschiedenen, die Untersuchung durchführenden Menschen; sie zeigt sich in der Intention, den angewandten Methoden und dem Verfahren. Im großen und ganzen glaube ich, zwei Kategorien unterscheiden zu können: Einerseits jene, die von vornherein von der Schädlichkeit der NRB überzeugt waren; sie geben sich damit zufrieden, ihrer Überzeugung durch Hinweis auf illustrative Vorfälle Nachdruck zu verleihen, um so ihre Aufmerksamkeit Plänen zu widmen, wie die angeblich schädlichen Auswirkungen verhindert oder zumindest abgeschwächt werden könnten. Andererseits gibt es jene, die ursprünglich keine eindeutige Meinung über NRB hatten; sie versuchen sich auf Grund von Untersuchungen eine Meinung zu bilden und stellen Überlegungen an, ob es zu schädlichen Auswirkungen kommen könnte, die Grund zu staatlicher Intervention geben.
Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus mag die Beschreibung der erstgenannten Kategorie einer Verunglimpfung gleichkommen. Man muß sich aber vor Augen halten, daß ich in diesem Fall nicht von wissenschaftlicher Forschung spreche, sondern in erster Linie von politischen, öffentlichen Untersuchungen. Im politischen Bereich ist bereits der Entschluß zu einer Untersuchung von NRB eine wichtige Tatsache, die von der Anti-Kult-Bewegung zu Recht als Sieg ihrer Sache gedeutet wird. Dieser Entschluß an sich ist Ausdruck eines politischen Wunsches, und Politiker, die eine solche Entscheidung gefällt haben, fühlen sich zunächst erleichtert und stimmen der Tendenz dieser Entscheidung zu. Sie werden sich alle Mühe geben, sich den Vorwurf, versagt zu haben, zu ersparen und einen klaren Erfolg für sich zu buchen. Darüberhinaus werden sie versuchen sicherzustellen, daß das Ausmaß des Erfolges mit der Tendenz ihrer Entscheidung übereinstimmt. Da die die Untersuchung durchführenden Politiker mehr oder weniger erfolgreich die politischen Auswirkungen ihrer Entscheidung, eine Untersuchung durchzuführen, überwunden haben, werden die Ergebnisse ihrer Tätigkeit variieren.
(Begrenzung staatlicher Toleranz in der niederländischen Gesellschaft, Toleranz und Repression, Campus Verlag, S. 343f)