Die Religionen haben es immer als ihre Existenzaufgabe angesehen, zuallererst das gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Gott zu heilen, und erst in zweiter Linie auf ein verbessertes Verhältnis der Menschen untereinander abgezielt. Insbesondere die geschlechtliche Beziehung wurde als Ausgangspunkt vielfacher Selbstsucht und Inbegriff der Begierden abgelehnt. Der weiter oben dargelegte vereinigungstheologische Standpunkt macht die Hintergründe dieser religiösen Tradition neu verständlich, aber die Vereinigungslehre verbindet auch die Aufgabe der Versöhnung des Menschen mit Gott fundamental mit der unabdingbaren Zielsetzung, die menschliche Liebe ganzheitlich zur Erfüllung zu bringen.
Jesus wie Paulus schätzten ein Leben im Zölibat für besser ein denn Ehelichkeit, wenn jemand dem christlichen Weg folgen wolle.17 Buddha lehrte ebenfalls die Abstinenz und Tausende von spirituell ausgerichteten Menschen und Mitgliedern religiöser Gruppen sind diesem Beispiel gefolgt. Die monastischen Orden haben im Christentum ungezählten Nonnen und Mönchen als geistige Heimat gedient, und die Erfahrung der Keuschheit hat diesen Menschen gezeigt, daß in der bedingungslosen, ausschließlichen Gottesliebe der tiefsten Seele Freude gründet, eine unbeschreibliche und unvergängliche Süße.
Mystiker und Mystikerinnen haben in dieser Gottesliebe intensivste Gefühle bis hin zur Ekstase erlebt. Läßt eine Liebe mit solchen Qualitäten sich auf die zwischenmenschliche, die horizon-tale Ebene über tragen? Kann die erotische Liebe von Ehemann und Ehefrau so stark, so erfüllend und so verläßlich sein wie die Liebe zwischen Gott und Mensch? Es ist offensichtlich, daß dies nicht die Frage der Kirchen und Mönchsorden war und daß zumindest die offizielle christliche Lehre die Vorstellung zurückwies, ein irdisches Paradies könne in familialer Liebe - ausgehend von ehelicher Hingabe, Ekstase inbegriffen - gestaltet werden.
Insgesamt geht die Tendenz unserer Tage dahin, anstelle von Gottergriffenheit nach Selbsterfahrung zu streben, Gefühlen und Bindungen zu mißtrauen, Liebe und Triebe bestenfalls getrennt zu sehen oder die eigene Beziehungssphäre fern allen Idealen anzusiedeln. Damit droht eine Entzauberung der inneren und äußeren Welt: eine innere Eiszeit.
Es ist eine Allerweltsweisheit, daß in einer derart extremen Situation das Pendel zum Gegenschwung übergehen und eine neue positive Sicht der Liebe aufblühen muß. Vielleicht erleben wir ja auch das letzte, grausamste Aufbäumen geistigen Winters, bevor uns ein nie dagewesener Frühling wahrer Liebe mit seinen Segnungen entzückt. Die Vereinigungslehre vertritt jedenfalls einen solchen Standpunkt, daß heute alle Chancen für diesen Frühling gegeben sind und daß die Arbeit Rev. und Mrs. Sun Myung Moons in diesem Kontext zu verstehen ist.
Auf wissenschaftlichem, sozialem, politischem, philosophischem und religiösem Sektor haben sich in unserem Jahrhundert Entwicklungen vollzogen, die einer neuen Liebesfähigkeit im Konzert von menschlicher Erfüllung und himmlischer Hingabe den Weg geebnet haben. Dieses Spektrum reicht von der Demokratisierung und der Anerkennung der Menschenrechte über die Gleichberechtigung von Frau und Mann bis hin zur Öffnung der religiösen Landschaft für viele Inspirationen. Ein neues Menschenbild zeichnet sich ab, das dem Menschen zum ersten Mal eine realistische Chance zur Verwirklichung seines individuellen und familialen Potentials eröffnet.
Die Vereinigungstheologie unterstreicht, daß wir in einer Zeit leben, in der die geistigen Möglichkeiten der Beziehung von Mann und Frau zur Vollendung reifen können. Die Voraussetzungen stimmen heute, um die durch den Sündenfall zerstörte Beziehungskraft zurückzugewinnen.
Das Vereinigungsdenken erläutert zum einen, wie in unserer Epoche die Beziehung von Geist und Körper in einem konstruktiven Subjekt-Objekt Verhältnis harmonisiert werden und somit das verbreitete religionsgeschichtliche Dilemma der Körperfeindlichkeit aufgelöst werden kann. Zum anderen betont das Vereinigungsdenken als oberstes ethisches Primat eine Liebe, die in der Familie beginnt und auf diesem Fundament gesellschaftliche und internationale Beziehungen bestimmt.
Es ist die familiale Liebe, in der die Liebe Gottes konkret zum Tragen kommt. So unsere Familie gesund ist, erfahren wir Menschen hier die Liebe aus der kindlichen, geschwisterlichen, ehelichen, elterlichen und schließlich großelterlichen Perspektive - eine Offenbarung der Vielfalt, Tiefe und Kraft von Gottes Liebe. Nach diesem Verständnis eröffnet die Ehe dem Menschen eine neue Dimension der Gotteserfahrung und hat die Qualität größter, ja ewiger Bedeutung. Wahre Liebe in ehelicher Gemeinschaft zu erlernen und in einer Familie zu substantiieren, kann als Kernzweck menschlichen Lebens gelten.
Es versteht sich nun von selbst, daß ein Individuum nicht "tabula rasa" in die Ehe eintritt, sondern eine Summe von Prägungen und Erfahrungen mit sich bringt, welche positive oder nachteilige Bedingungen für die ehelichen Lern- und Kommunikationsprozesse schaffen. Gleichermaßen einleuchten wird daher, daß der Wert einer intensiven Vorbereitung nicht hoch genug angesetzt werden kann. Um den hohen Erfordernissen zu entsprechen, sollte eine Ehevorbereitung sich auf die Schulung des persönlichen Charakters und der Lebenshaltung konzentrieren.